Bonuskapitel zu Feuer der Zeit

Die Seherin

 

 

 

In den Wäldern Germaniens nahe der Elbe im Spätsommer des Jahres 745 ab urbe condita (9 v. Chr.)

 

 

 

Hulda rannte, so schnell sie konnte. Schwer hing die spätsommerliche Schwüle zwischen den hoch aufragenden Bäumen. Die Gerüchte waren also wahr! Römische Krieger drangen nun selbst ins weit entfernte Gebiet der Cherusker vor. Mit eigenen Augen hatte sie den von Metall schimmernden Heereswurm erblickt. Sie musste die Hütte der alten Erlgard erreichen, bevor die Römer unversehens darauf stießen. Die Weise Frau der Cherusker lebte weit außerhalb von Segimers umfriedetem Dorf in den Wäldern, ganz allein und schutzlos. Immer wieder stolperte Hulda über Baumwurzeln, drohte zu stürzen. Besser, sie blieb auf dem Pfad, der nicht ganz so unwegsam war wie das von Brombeerranken durchsetzte Unterholz, auch wenn die Römer sie dort entdecken konnten. Sie musste verschnaufen, denn sie trug schwer an ihrem Kind, vermutlich das letzte, das sie zur Welt bringen, und das einzige, das ihr bleiben würde, wenn es den Göttern gefiel. Ihre beiden gerade erst zu Kriegern geweihten Söhne Baldwin und Siegbald waren vor drei Jahren im Kampf gegen den römischen Herizog Drusus – verflucht sei sein Name in alle Ewigkeit! – als Einherier in Walhall eingezogen. Hulda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lehnte sich keuchend mit dem Rücken gegen eine Eberesche. Hoffentlich trug sie eine Tochter im Leib, eine Nachfolgerin, nachdem Osrun …

 

     Ihre wunderschöne Tochter war damals wie so viele aus Huldas Sippe von den Römern verschleppt worden. Es hieß, die kleinen Männer aus dem Süden liebten blonde Frauen. Osrun war verloren, falls sie überhaupt noch lebte, und mit ihr das Wissen, das sie als nächste Weise Frau der Brukterer benötigte. Beim Totenfest hatte Hulda gemeinsam mit ihrem Gemahl Baldger ihre Tochter für tot erklärt und um sie getrauert.

 

     Siebenunddreißig Sommer zählte Hulda, und sie hatte nicht geglaubt, noch einmal des Segens Freyas teilhaftig werden zu können. Doch die Schwangerschaft war beschwerlich; Hulda spürte die Last wegen ihres Alters doppelt. Um dieses kostbare Kind in ihrem Leib dem Zugriff der Römer zu entziehen, hatte Baldger, ein mächtiger Sippenführer der Brukterer, sie zu den Cheruskern gesandt, einem der letzten freien Stämme. Doch die Gier der Römer war unersättlich, auch hierher drangen sie nun vor. Jetzt begann das Ungeborene in ihr auch noch wütend zu strampeln, als dürstete es danach, sich auf den Feind zu stürzen. Doch ein Sohn?

 

     Hufschlag auf dem Pfad. Rösser schnaubten, Zaumzeug klirrte. Hulda spürte, sie würde es nicht schaffen. Schon bald hätten die Feinde sie entdeckt, dann auch Erlgards Hütte, die am Ende dieses Pfades lag. Die abergläubischen Römer fürchteten die Macht der Strigae, der Hexen, wie sie die Weisen Frauen nannten. Sie würden sie beide vernichten. Hulda musste die alte Frau schützen, sich selbst und das Ungeborene. Wie sollten die Stämme der Cherusker und Brukterer überleben ohne das Wissen ihrer Weisen Frauen? Sie schloss die Augen und flehte die Götter um Beistand an. Die Erde unter ihren Füßen vibrierte von den Tritten der herannahenden Feinde, doch darunter lag noch etwas anderes, der Puls von Nerthus, der Mutter Erde, den Hulda zu lesen gelernt hatte. Sie schlug die Augen auf und entdeckte unweit am Wegesrand einen Findling, von dem die Macht förmlich ausstrahlte. Schnell lief sie darauf zu und erklomm ihn. Dann hüllte sie sich gänzlich in ihren Umhang, sodass dieser ihre Füße und einen Teil des Steines verdeckte. Von dieser erhöhten Position aus erwartete sie die Römer, die kurz darauf um die Wegbiegung kamen.

 

     Der erste Römer, der sie erblickte, riss vor Schreck an den Zügeln. Sein Ross stieg wiehernd. Hulda sah das Weiße in den Augen des Tieres. Dann erkannte sie den Reiter, den verhassten Feind selbst: Drusus! Im selben Moment verdüsterte sich der Himmel. Dicke Wolken versperrten Sunnas Strahlen. Unter Donars weit ausholendem Arm bogen sich die Baumwipfel; ein Blitz durchzuckte die Finsternis, gleich drauf brachte ohrenbetäubender Donner auch die übrigen Römerpferde zum Scheuen. Der nächste Blitz schlug in die mächtige Eiche auf der anderen Seite des Weges ein. Nach der langen Trockenheit des Sommers ging der Baum sofort in Flammen auf, angefacht von den peitschenden Windstößen, und beleuchtete die Szenerie wie eine riesige Fackel. Plötzlich lag Grabesstille über dem Wald. Hulda spreizte die Arme, und während sie in den dunklen Himmel starrte erblickte sie Bilder von nie gekannter Klarheit.

 

     »Kehre um, oh unersättlicher Drusus!« Die Worte drangen aus ihrer Kehle, ohne dass Hulda sie zuvor gedacht hatte. Die Götter sprachen aus ihr! »Kehre um! Es ist dir vom Schicksal nicht bestimmt, mehr zu erblicken. Weiche zurück, denn das Ende deiner Taten und deines Lebens ist nah!«

 

     Stockstarr saßen die Römer auf ihren unruhig tänzelnden Rössern. Drusus’ Mund öffnete sich, doch kein Wort der Erwiderung verließ seine Lippen. Krachend stürzte ein brennender Ast genau vor den Römern auf den Pfad; ein neuerlicher Blitz und nachfolgender Donnerschlag war zu viel für die Männer aus dem Süden. Panisch stoben sie davon in die Dunkelheit des Waldes.

 

     Hulda erwachte aus ihrer Trance. Nie zuvor war ihr eine so mächtige und klare Vision zuteilgeworden! Ein Pferdehuf, der sich in einem Fuchsbau verfing, der Sturz des Rosses, das seinen Reiter unter sich begrub … Drusus’ Tage waren gezählt; Hulda war vor den Römern sicher – vorerst. Heftiger Regen setzte ein und löschte den brennenden Baum. Sie ließ sich vorsichtig von dem Stein der Macht gleiten, der unter ihrer Hand noch warm pulsierte.

 

     Als sie endlich Erlgards Behausung erreichte, schlug ihr der Rocksaum schwer vor Nässe gegen die Knöchel. Auch wenn der Regen unvermindert weiterprasselte, war die nachtdunkle Finsternis doch einem trüben Zwielicht gewichen, das sie den Heimweg hatte finden lassen. Die alte Frau erwartete sie bereits. Wortlos half sie Hulda aus den tropfnassen Kleidern. Nackt, nur in eine Felldecke gehüllt, hockte Hulda sich auf den Schemel neben der Feuerstelle in der Mitte der Hütte, um sich zu wärmen. Erlgard brachte eine Schale mit einer blauen Paste herbei. In ihrer Linken sah Hulda eine spitze Knochennadel. Nein, sie musste Erlgard nicht erzählen, was vorgefallen war. Wie so oft wusste die Alte bereits alles. Hulda erschauerte, denn sie ahnte, was nun kommen würde. Endlich hatte auch sie die nächste Stufe erreicht. Von diesem Tage an war sie nicht nur Weise Frau, sondern machtvolle Seherin. Ohne zu zucken, erwartete sie den Schmerz der Tätowiernadel.

 

 

 

Einen Mond später setzten bei Hulda die Wehen ein. Dieses Kind würde leben! Die Gewissheit durchströmte sie, denn seit jenem Tag im Wald hatten sie die Traumgesichte nicht mehr verlassen. Ungewöhnlich heftig wüteten die Schmerzen. Nach so vielen Geburten sollte es eigentlich leichter gehen …

 

     Erlgard hockte sich neben ihr nieder und strich ihr mit einem kühlen, feuchten Tuch den Schweiß von der Stirn. Sie sang: »Milde Mächte helfen dir, Frigg und Freya, der Götter Schar.«

 

     Hulda krümmte sich unter einer neuerlichen Welle. So oft hatte sie den Geburtsschmerz bereits überstanden, doch nur drei ihrer sieben Kinder hatten das Erwachsenenalter erreicht. Ein Schrei entfuhr ihrer Kehle.

 

     »Ein mächtiger Krieger bahnt sich seinen Weg«, wisperte Erlgard ehrfürchtig.

 

     »Nein! Eine Tochter, ich brauche eine Tochter!«, keuchte Hulda. Doch sie wusste, dass ihre Lehrmeisterin die Wahrheit geschaut hatte. Auch sie spürte das Ungestüm im Wesen dieses Knaben.

 

     Die Alte wiegte sich hin und her. »Die dir nachfolgt, wird kommen aus dem Feuer der Zeit, wenn das Schicksal unseres Volkes auf Messers Schneide steht.«

 

     Sie ist in Trance!, erkannte Hulda. Nein, ihr Götter, nicht jetzt! Wenn Erlgard von Visionen heimgesucht wurde, war sie oft lange nicht ansprechbar, und Hulda brauchte sie doch. In immer rascherer Folge kamen die Wehen, und noch immer starrte ihr Mitweib nur leeren Blickes gegen die Wand. Das Kind wird mich zerreißen! Dann verspürte Hulda den Drang zu pressen. Sie brüllte ihren Schmerz hinaus und brachte alle Kraft auf, die sie nach den stundenlangen Wehen noch in sich hatte. In dem Moment, als sie den ersten Schrei ihres Sohnes hörte, verschleierte sich ihre Sicht, und sie sah. Sah einen Raum mit einem Lager, auf dem ein Mann seinen letzten Atemzug tat. Drusus! Welch Posse der Götter war dies?

 

     Erlgard erhob sich. »Der Knabe ist geboren!« Sie durchschnitt gekonnt die Nabelschnur und reichte Hulda das Kind, dessen Kopf noch blutverschmiert war.

 

     Aus großen blauen Augen blickte ihr Sohn zu ihr auf.

 

 

 

Gerade noch rechtzeitig vor dem ersten Schneefall erreichte Hulda mit dem Kind das Dorf ihres Gemahls. Nun, da Drusus tot war, mussten sie die Römer nicht länger fürchten. In Windeseile hatten die Fremden sich zurückgezogen und nach dem Sturz ihres Herizogs hinter ihren Wällen verschanzt. Baldger musste das Kind jetzt schleunigst als das Seine anerkennen, ihm einen Namen geben, damit das Hugr des Neugeborenen, seine Lebenskraft, in seinem Körper Heimstatt nehmen konnte. Einige Krieger aus Segimers Gefolge gaben Hulda das Geleit.

 

     Der Anblick Baldgers ließ Huldas Herz einen Hüpfer machen. Hochgewachsen stand er auf dem Dorfplatz, das Gesicht umrahmt von Gold schimmerndem Haar. Als sie näherkam und ihm das Kind entgegenhielt, entdeckte sie Sorgenfalten auf seiner Stirn, die noch vor wenigen Monden weniger tief gewesen waren. »Baldger, mein Gemahl, dies ist dein Sohn.«

 

     Da vertiefte ein Lächeln die Fältchen um Baldgers Augen. »Ein Sohn!« Sacht berührte er die frisch tätowierten Zeichen an ihrer Schläfe und nickte anerkennend. Doch was Hulda ihm darüber zu erzählen hatte, war nicht für aller Ohren bestimmt.

 

     Der Hörige Einulf wieselte davon und kam bald darauf mit Baldgers Schild zurück, das er auf den Boden legte. Hulda bettete behutsam das Kind darauf, und Baldger bückte sich so geschmeidig wie ein junger Krieger. Als er Schild und Knaben anhob und in den Himmel reckte, als wögen sie nichts, rief er: »Dies ist Baldur, mein Sohn! Dereinst möge er die Sippe führen.« Plötzlich verdüsterte ein Schatten seine Züge.

 

     Ja, die Römer werden ihn schon bald als Geisel fordern, mein goldenes Kind. Garant für unser Wohlverhalten … Huldas Herz krampfte sich zusammen. Nachdem nun auch die Cherusker zum Teil unterworfen waren, gab es keinen Rückzugsort außer Reichweite der römischen Adlerschwingen mehr. Sie mussten Baldur den Römern ausliefern, sobald er alt genug war. Würde dieses Kind ein Römling werden, für die Feinde kämpfen statt für seine eigene Sippe, ja, vielleicht sogar den Römern helfen, auch die letzten freien Stämme unter das römische Joch zu zwingen? Nicht, wenn ich es verhindern kann!, schwor sie sich.

 

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